Worüber spricht eine „Gloria, worüber schweigt der „Gefangene“?

 

Überraschend rätselhaft blieben mir die Arbeiten von Corinna Mayer nach einem Atelierundgang in Erinnerung. Mehr als all die anderen Werke der verschiedenen Künstler, die ich an diesem Wochenende gesehen hatte, haben sich ihre Bilder in meinem Kopf festgesetzt – diese Figuren, die in ihrer Farbigkeit und physiognomischen Charakteristik von der Wand des Ateliers blickten und den Kontakt mit mir suchten.

Als seien sie sich einem Gegenüber bewusst, fixieren sie den Betrachter aufmerksam forschend und distanzierend zugleich. Mal ist ihr Blick selbstbewußt oder in Gedanken versunken in die Ferne gerichtet. Blicke kreuzen sich nicht, und doch durchdringen sie den Betrachter. Während ein Auge Verbindung mit der Außenwelt sucht und unseren Blick scheinbar erwidert, ist das zweite nach Innen gerichtet. So überrascht es nicht, dass die Augen den zentralen Ausgangspunkt in diesen Arbeiten der Künstlerin bilden. Andere dagegen, als Profildarstellung ganz vom Betrachter abgewandt, bieten keinen anschaulichen Dialog. Das Erscheinungsbild des dargestellten Menschen ist auf „ein Auge, ein Ohr, eine Nasenlinie, ein Aspekt von Wange und Kinn" reduziert.

In der Malerei und den Zeichnungen von Corinna Mayer gilt das Interesse dem Porträt: Sie malt sich selbst, Freunde, anonyme Modelle, Darstellungen aus der bildenden Kunst. Neben persönlichen Fotos und  fotografischen Vorlagen nutzt sie als formalen Ausgangspunkt Bildnisse der Renaissance, einer Zeit, in der das neue Interesse am Individuum zu einer Blüte der Porträtkunst führte. Die formale Verbundenheit  zum klassischen Porträt, ist besonders in der Malerei der Künstlerin durch die reservierte Haltung der Dargestellten zu spüren.

Nicht die detailgetreue Nachahmung der Vorlage steht im Zentrum ihrer Arbeit, mehr dient sie der Künstlerin als „Anregungs- und Assoziationsfläche“. Eigene Erinnerungen und Erfahrungen mit den Figuren verflechtend, bedient sie sich gezielt eines Vorbilds, um von dort eine eigenständige und innovative Bildschöpfung zu entwickeln. Den Blick forschend auf Frau oder Mann gerichtet befragt und reflektiert Corinna Mayer deren Erscheinung und legt diese durch die auffällige Stilisierung ihres Ausdrucks frei.

Der eine oder anderen Betrachter meint, das „zitierte“ Bildnis zu erkennen. Die Titel selbst geben keine Auskunft. So soll die oder der Dargestellte „nicht einen bestimmten Menschen abbilden - sie können aber gleichzeitig an verschiedene Menschen erinnern“.

Man sucht im Formalen halt, versucht, die Bilder nach Komposition, Form und Farbe genauer zu bestimmen. Während bei den Zeichnungen der Bildausschnitt Raum markiert, kennzeichnet ein monochromer Hintergrund die Leinwand, dessen Farbgrund lediglich durch Schatten und feine Tonabstufungen strukturiert ist. Dieser unbestimmte Raum begründet den zeitlosen und ortlosen Charakter ihrer Arbeiten. Zeitlos sind auch die Figuren: sie sind „Menschen von heute und gleichzeitig von früher“.

Die angedeutete mimische Regung ihrer Typen in Auge und Mund verweist auf den Charakter der Person. Verstärkt wird dieser Eindruck durch den Glanz, der aus den Körperflächen hervordringt, als würden die Figuren innerlich leuchten. Zugleich vermittelt die Abgrenzung einzelner Flächen durch weiche oder harte Übergänge, die ebenmäßige Schicht von Farbe den Eindruck von Verschlossenheit. Bedingt durch die Durchlässigkeit der Farbe wird diese Schutzhülle allein in den Zeichnungen durchbrochen. Weniger als ein klassisches Porträt erscheinen sie dadurch als Momentaufnahme.

Gleichbedeutend zur Darstellung von Physiognomie und Körperhabitus steht eine abstrakte Formensprache im Zentrum der Arbeiten. Besonders die Reduktion auf geometrische, klare Formen, ähnlich der typisierenden Menschenskulpturen Oskar Schlemmers, lassen die einzelnen Körperteile gegenständlich wie abstrakt erscheinen.

Während ihrer Stipendienzeit im Künstlerhaus Schloss Balmoral in Bad Ems sind neue Arbeiten entstanden. So finden sich die anderen Stipendiaten in ihren Zeichnungen als „Schlossbewohner“ wieder. Aber auch bereits begonnene Bilder sind mit an den neuen Ort gezogen. In neuer Umgebung haben sie einen fortschreitenden malerischen Prozess erfahren und sich auch untereinander neu beeinflusst. Wiederholt werden von Corinna Mayer neue Arbeiten an der Wand ihres Ateliers  plaziert und wieder abgehängt. In neuer Nachbarschaft begannen sie, auch miteinander zu kommunizieren, sich gegenseitig zu beeinflussen in ihrem Blick, in der formalen Ausgestaltung, in ihrer Farbigkeit.

Auf die Grundfarben reduziert, bedient sich die Künstlerin vor allem der Farbe Blau. Für Kandinsky ist das Blau der überirdische Schwerpunkt der Farbe: „Je tiefer das Blau wird, desto mehr ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich übersinnlichen“. Wie in einem surrealen Raum wirken die Figuren traumartig, fast unwirklich. Außerdem bringt die Farbe Blau etwas Geheimnisvolles mit sich.

Worüber spricht der Blick einer „Gloria“, worüber schweigt der „Gefangene“? Es bleibt etwas nicht einlösbares, widersprüchliches. Und behält das dargestellte Individuum nicht gerade deshalb seine Individualität, weil es sich nicht auf einen bestimmten Inhalt festlegen lässt.

Christina März 2001